Wasserkraft und Verkehr in Nationalpark

Ofenpassstrasse

Die Ofenpassstrasse kurz vor der Abzweigung nach Livigno bei Punt la Drossa.

5. Oktober 2014 – In einem Nationalpark kann sich die Natur in der Kernzone frei entwickeln. Im Schweizerischen Nationalpark, dem ersten und bisher einzigen der Schweiz, ist das seit hundert Jahren der Fall. Sollte es eigentlich sein. Eine Entwicklung fern jeglicher anthropogener Einflussfaktoren ist in der heutigen Welt illusorisch. In den 1950er-Jahren stimmte zudem das Schweizer Stimmvolk dem Bau eines Kraftwerks im Engadin deutlich zu. Dadurch wurde der Nationalpark beziehungsweise der Spöl als wichtigster Fluss im Nationalpark stark in Mitleidenschaft gezogen.

Doch die grösste Belastung für den Nationalpark ist heute nicht der Kraftwerksbetrieb und die damit verbundene Restwasserstrecke. Der Spöl konnte dank künstlicher Hochwasser ökologisch aufgewertet werden – so wie der Colorado im berühmten Grand Canyon Nationalpark. Eine grosse Hypothek ist vielmehr der Verkehr über den Ofenpass – und nach Livigno. Dieser hat wegen des Tunnels Munt la Schera, der für den Kraftwerksbau auf Vorschlag der Naturschutzorganisationen erstellt wurde, in den letzten Jahren dramatisch zugenommen. Im einspurigen Tunnel wird an Samstagen in der Wintersaison von 5 bis 10 Uhr der Verkehr in Richtung Schweiz abgewickelt und von 11 bis 18 Uhr dürfen die Autos von der Schweiz nach dem zollfreien Livigno fahren.

ZufahrtnachLivigno

Die Fahrt nach Livigno ist gebührenpflichtig.

LagodiLivignoWebseite

Blick Richtung Livigno vom Munt la Schera.

Im Sommer ist der Lärm der Motorradfahrer im Nationalpark weitherum zu hören. Die Stiftung Landschaftsschutz erhob gegen ein Sanierungsprojekt der Ofenpassstrasse Einsprache – und forderte gleichzeitig, über eine Gebühr für die Benützung dieser Strasse nachzudenken. Die einheimische Bevölkerung wäre laut der Stiftung von der Gebühr befreit. Das Manöver richtet sich nicht gegen die Sanierung, sondern bezweckt die Erarbeitung von verkehrslenkenden Massnahmen.

Die Promotoren der beiden Nationalparkkandidaten Parc Adula und Parco Nazionale del Locarnese dürften sich über das Vorpreschen kaum freuen. Sie ringen nämlich um die erforderliche Zustimmung der Bevölkerung in der Region. Und diese sorgt sich darum, was in einem Nationalpark künftig noch möglich sein wird. Da sich in der vorgesehenen Pufferzone zahlreiche Siedlungen befinden, fragt sich vielleicht manch einer, ob er in Zukunft eine Gebühr bezahlen muss, wenn er mit dem Auto nach Hause fahren will. Hoffentlich lassen sich die künftigen «Parkbewohner» bei ihrer Entscheidung nicht beirren.

Der Bündner Regierungsrat Mario Cavigelli stimmt jedoch nicht gerade optimistisch. Als Präsident der Regierungskonferenz der Gebirgskantone erklärte er anlässlich der Präsentation eines Positionspapiers zur räumlichen Strategie der alpin geprägten Räume der Schweiz im Echo der Zeit kürzlich. «Wir möchten nicht Naturpark sein. Wir sind ein Lebensraum, ein Wirtschaftsraum.» Die Reaktion ist verständlich. Doch wer wollte schon bestreiten, dass das Berggebiet der Lebensraum für die dortige Bevölkerung ist? Ist ein Miteinander von Naturpark und Wirtschaftsraum unmöglich? Oder könnte ein Natur- oder Nationalpark gar mithelfen, den wirtschaftlichen Erfolg einer Region künftig zu sichern? Das Positionspapier der Gebirgskantone enthält einige gute Elemente. Insgesamt ist es aber wenig visionär.

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Nachtrag: Anlässlich der Präsentation der Ergebnisse des WSL-Forschungsprojektes Bündner Wald im Klimawandel hatte ich am 27. Oktober 2014 die Gelegenheit, Mario Cavigelli auf das Gespräch mit dem SRF-Journalisten anzusprechen. Cavigelli sagte, er habe die Aussage «Wir möchten kein Naturpark sein» auf den Kanton als Ganzes bezogen. Im Unterland sehe man Graubünden mitunter als grossen Naturpark, weil man selber kaum mehr naturnahe Räume habe. Seine Aussage sei aber nicht auf ein bestimmtes Projekt gemünzt gewesen. Im sehr angeregten Gespräch bekam ich sogar den Eindruck, dass der Bündner Regierungsrat den laufenden Projekten durchaus Positives abgewinnen kann und in diesen Initiativen auch Chancen für die Zukunft sieht.  

 

Artikel über die künstlichen Hochwasser im Spöl: TEC21NZZ 2013NZZ 2014 – Langversion Artikel NZZ 2014 mit Fotos

Informationen zum Projekt Parc Adula

Informationen zum Projekt Parco Nazionale del Locarnese

Interview mit dem Bündner Regierungsrat Mario Cavigelli, dem Walliser Staatsrat Jean-Michel Cina und Raimund Rodewald, dem Geschäftsführer der Stiftung für Landschaftsschutz, ausgestrahlt am 30. September 2014 im Echo der Zeit auf SRF.

Positionspapier «Räumliche Strategie für die alpin geprägten Räume» (.pdf Dokument)

 

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