9. März 2017 – Vor einer Woche fuhr ich zum ersten Mal durch den Gotthard-Basistunnel ins Tessin. Der Zug fuhr nicht das Reusstal hoch und bei Wassen durch die Kehrtunnels, um schliesslich in den Scheiteltunnel einzufahren. Nicht mehr durch die Leventina, die erste Geländestufe beim Dazio Grande, bei Faido vorbei, um in der zweiten Geländestufe in der Biaschina weiter an Höhe zu verlieren. Nein, in Erstfeld tauchte der Zug in den 57 Kilometer langen Tunnel ein, um gut 20 Minuten später bei Pollegio wieder aus dem Berg zu fahren. Am markanten Gebäude der SBB vorbei, in dem der gesamte Zugsverkehr von der Südgrenze über den Gotthard bis nach Arth-Goldau gesteuert wird. Und wenig später stieg ich in Bellinzona aus dem Zug.
Bisher war die Fahrt ins Tessin stets eine langsame Annäherung ans Reiseziel. Der Weg führte über Göschenen und Airolo – das Urner Bergdorf am Eingang der Schöllenenschlucht geprägt durch ein raues Klima und mächtig drückende Felsen, Airolo bereits mit südlichem Flair ausgestattet. Es war eine Reise vom gemässigten Klima der Nordschweiz durchs Gebirge ins insubrische Klima. Nun aber wird man vom Tunnel direkt in den Süden ausgespuckt. Das Licht ist schlagartig anders – wie wenn einer während der Tunnelfahrt den Schalter gekippt hätte.
Die Fahrt zurück in den Norden erlebte ich sanfter. Vielleicht auch weil ich mit einer Studienkollegin und ihren drei Kindern reiste. Das war zwar auch ein Ereignis, denn die Kinder fuhren zum ersten Mal durch den Tunnel. Sie wachsen im Tessin auf und werden von der schnellen Verbindung in die Deutschschweiz auf jeden Fall profitieren.
Das Jahrhundertbauwerk beschert uns schnellere Verbindungen. Ob die Nordschweiz und das Tessin sich dadurch aber auch näherkommen, ist offen. Im Tessin hört man immer wieder mal «Berna non ci capisce». Für einmal sind es also nicht die Zürcher – wobei «Bern» für die nationale Dimension der Schweizer Politik steht, somit indirekt natürlich auch Zürich, Basel und vielleicht sogar Genf gemeint sind …
Wichtig wäre anzuerkennen, dass im Tessin tatsächlich auch andere Dinge passieren als in der Nordschweiz. Am Abend las ich in einer Pizzeria in Bellinzona in einer Zeitung vom Flüchtling, der in Como (wo genau weiss die Polizei nicht) auf das Dach einer S-Bahn kletterte oder sprang, so in die Schweiz einreiste, im Bahnhof von Balerna sich erhob, zu nahe an die Fahrleitung geriet und elendiglich verbannte. In der Deutschschweiz ist mir in den grossen Tageszeitungen keine Berichterstattung über dieses Flüchtlingsdrama aufgefallen. Im Internet stiess ich lediglich auf Berichte in 20 Minuten und dem Blick – mit wenig Text, dafür wie üblich mit Bild. Es ist deshalb gut, dass die Berichterstattung und ein Kommentar in der «La Regione» mich mit diesem Flüchtlingsdrama konfrontierten.
Ich hätte wahrscheinlich aber auch in die Zeitung geschaut, wenn die Schweiz den Gotthard-Basistunnel nicht gebaut hätte. Ein Bauwerk schafft Voraussetzungen, löst aber selber noch gar nichts aus. Dessen Nutzung und was die Menschen damit machen, ist entscheidend. Und ob wir uns die Mühe und Zeit nehmen, die jeweils anderen Landesteile zu verstehen. Das bedeutet vor allem auch: zuhören – und nicht in erster Linie denen, die am lautesten rufen. Sondern denjenigen, die gewillt sind, einen Dialog zu führen.
TEC21 – 5. August 2015 – Tessiner Stimmen zur neuen Alpentransversalen – (.pdf-Dokument)