19. März 2018 – Seit einigen Jahren bin ich immer wieder mal in den Tessiner Wäldern unterwegs. Ich mag die alten Kastanienbäume. Ihre dicken Stämme erzählen von der Geschichte der Kastanienkultur auf der Alpensüdseite.
Und ich mag die Buchenwälder. Die Buchen wachsen auf den kargen Böden oft nur langsam. Die bizarren Stammformen sind sehr individuell geformt und geprägt durch die harten Wuchsverhältnisse. Ebenso hart waren die Lebensverhältnisse für die Bevölkerung in den Tessiner Bergtälern bis ungefähr zum zweiten Weltkrieg. Obwohl alle denkbaren Flächen land- und alpwirtschaftlich genutzt wurden, gab es nicht für alle genug zu essen. Und die Familien waren gross. Viele Tessiner wanderten deshalb aus. Zunächst in die europäischen Metropolen, später dann auch nach Kalifornien und Australien.
Der Tessiner Schriftsteller Plinio Martini hat die Verhältnisse im Maggiatal in seinem Buch «Il fondo del Sacco» sehr eindrücklich beschrieben. Das Buch liegt auch auf deutsch vor («Nicht Anfang und nicht Ende»). Lange wurde Martini, der in Cavergno und Cevio als Lehrer wirkte, im Tessin nicht sehr geschätzt. Heute wird sein Werk aber auch in der Südschweiz stärker wahrgenommen.
Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts findet in den Tälern auf der schweizerischen Alpensüdseite ein starker Landschaftswandel statt. Nach Jahrhunderten intensivster Nutzung dehnte sich der Wald in den vergangenen Jahrzehnten nirgends so stark aus wie in der Südschweiz. In vielen Wäldern im Tessin sind die Spuren früherer menschlicher Aktivitäten noch gut erkennbar.
Ein Beispiel dafür ist das Valle di Lodano, ein Seitental im unteren Maggiatal. Die Wälder dort sind über Jahrhunderte intensiv genutzt worden. Ein Höhepunkt bildete das 19. Jahrhundert. Damals wurden enorme Mengen Holz nach Italien verkauft, während die lokale Bevölkerung ihren Bedarf nach Brenn- und Bauholz deckte. Für die Herstellung der begehrten Holzkohle waren offenbar vor allem Buchenwälder beliebt. Über 200 Köhlerplätze sind inventarisiert worden. Einige davon sind bis 1945 betrieben worden.
Weil das Gebiet sehr steil ist, lohnte sich die Waldnutzung ab 1964 nicht mehr. Seither wächst der Wald und erholt sich zusehends. Die Artenvielfalt im Valle di Lodano ist eindrücklich. 2012 erklärte sich die Bürgergemeinde von Lodano bereit, auf 766 Hektaren gegen entsprechende Entschädigung während mindestens 50 Jahren auf jegliche Holznutzung zu verzichten (vgl. Foto). Aufgrund der früheren Nutzung ist der Wald ziemlich jung; einige Buchen sind aber recht alt und haben sehr spezielle Baumkronen ausgebildet (vgl. Fotos zum Anklicken unten). Vor allem noch vor dem Blattaustrieb im Frühjahr ist der Wald voll von Poesie.
2016 hat eine Expertengruppe des Bundes das Naturwaldreservat im Valle di Lodano zusammen mit einem Buchenreservat am Bettlachstock im Kanton Solothurn als Unesco-Weltnaturerbe vorgeschlagen. Falls die Gremien der Unesco zustimmen, könnten die beiden Buchenwälder somit bald Teil des sich über mehrere Länder erstreckenden Unesco-Weltnaturerbes der europäischen Buchenwälder sein.
Das Waldreservat im Valle di Lodano befindet sich unmittelbar angrenzend an das Gebiet des geplanten Nationalparks im Locarnese, über dessen Gründung die Bevölkerung der acht Gemeinden demnächst abstimmen wird. Auf dessen Perimeter befinden sich fünf weitere Naturwaldreservate, die sehr unterschiedlich sind. Stimmt die Bevölkerung dem Nationalpark zu, würden sie den Nukleus der vorgesehenen Kernzonen mit freier Naturentwicklung bilden.
Für die Bevölkerung sind diese Kernzonen eine ambivalente Angelegenheit. Die Rückeroberung vieler ehemals genutzter Flächen durch die Natur ist unaufhaltsam. In gewissem Sinne ist das eine Heilung der Wunden des ehemaligen Raubbaus. Die Menschen spüren aber auch, dass damit ein Stück eigene Kultur verloren geht. Doch gerade mit einem Nationalpark der neuen Generation kann es gelingen, in er Umgebungszone mit Projekten einen Teil der wertvollen und identitätsstiftenden Kulturlandschaft zu erhalten.
Ein Symbol der ehemaligen Nutzung sind etwa die mit Steinplatten kunstvoll gebauten Wege auf die Alpen hinauf (vgl. Foto links und unten). Jahrhundertelang sind sie begangen worden, zum Teil auch heute noch. Dank diesen attraktiven Wegen sind so schöne Orte wie der Buchenwald im Valle di Lodano für Wanderer heute so gut erreichbar. Die Zugänge erhalten damit eine neue Funktion. Diesen neuen Wert, der mit der Gründung eines Nationalparks noch deutlich gestärkt würde, gilt es erst noch zu entdecken.
Weitere Fotos:
Buche 1 – Buche 2 – Buche 3 – Buche 4 – Buche 5 – Buche 6 – Buche 7 – Buche 8 – Buche 9
Weg 1 – Weg 2 – Weg 3 – Weg 4 – Weg 5
Artikel im Bündner Wald Februar 2019 – Articolo in italiano (.pdf) – Beitrag RSI über die Valle di Lodano