Das Drama des Morteratschgletschers

An dieser Stelle befand sich 2015 die Spitze der Gletscherzunge.

6. November 2020 – Eine Wanderung zur Zunge des Morteratschgletschers im Berninagebiet lässt eindrücklich erleben, was die Klimaerwärmung in einem alpinen Raum bedeutet. In den letzten 150 Jahren hat sich der Gletscher um knapp drei Kilometer zurückgezogen, sein Eisvolumen nahm um zwei Drittel ab. Als die Berninabahn 1908 in Betrieb ging, lag die Gletscherzunge nicht viel mehr als ein Steinwurf von der Bahnstation Morterartsch entfernt.

Ich selber war 1985 – also vor 35 Jahren – mit meinen Eltern und Bekannten dort auf einer Wanderung. Seither betrug der Rückzug mehr als einen Kilometer. Wie die einst von Eis bedeckten Flächen zunächst von Pionierpflanzen und danach von Lärchen besiedelt werden, die sogenannte Sukzession, ist im Val Morteratsch eindrücklich zu sehen.

Wo sich 2015 das Gletschertor befand, ist heute eine Absperrung. Der damalige Hitzesommer stellte eine Zäsur dar. Nicht nur ging damals viel Eis verloren, sondern die Spitze des benachbarten Persgletschers koppelte sich 2015 auch vom Morteratschgletscher ab (Foto Stand des Gletschers im Jahr 2000Foto Gletschervorfeld 1Foto Gletschervorfeld 2).

Pioniervegetation auf den kargen Böden.

Spuren der früheren Vergletscherung.

Im August 2015 führten die Flüsse im Oberengadin Hochwasser, obwohl es gar nicht geregnet hatte. Das viele Wasser stammte von den Gletschern. Könnte nicht ein Teil dieses Schmelzwassers zurückgehalten und damit Schnee zum Schutz des Gletschers produziert werden, fragte sich der Glaziologe Felix Keller. Die Idee des «Schmelzwasser-Recyclings» war geboren (vgl. auch «Mit Schnee gegen den Gletscherschwund».)

Bestärkt wurde Keller durch die Erfahrungen mit dem kleinen Gletscher im Diavolezza-Skigebiet. Dieser wird seit einigen Jahren im Sommer mit Vlies abgedeckt, um Schnee für die nächste Saison zu konservieren. Der Gletscher legte so wieder mehrere Meter an Mächtigkeit zu. Der niederländische Glaziologe Johannes Oerlemans, aufgrund seiner langjährigen Forschungstätigkeit mit dem Morteratschgletscher vertraut, konnte zeigen, dass wenn eine Fläche von einem Quadratkilometer ganzjährig mit Schnee bedeckt wäre, der Gletscher deutlich langsamer abschmelzen und vielleicht sogar wieder etwas Masse zulegen würde. Doch wie liesse sich ein Gletscher beschneien? Dies könnte mittels sechs bis sieben Schneiseilen, die über den Morteratschgletscher gespannt würden, erfolgen. Läge das Wasserreservoir beim höher gelegenen Persgletscher, würde der Wasserdruck genügen, um den benötigten Schnee ohne Energie zu produzieren.

Oberfläche des Persgletschers mit frischer Schneedecke.

Vorne der Persgletscher, weiter hinten der Morteratschgletscher.

Das Projekt, den Morteratschgletscher zu beschneien, hat den Namen Mort Alive erhalten. «Mort» bedeutet auf romanisch «Tod». Gleichzeitig ist das Wort auch im Namen Morteratsch enthalten. «Alive» ist englisch und bedeutet «lebendig». Es geht also darum, einem Todgeweihten neues Leben einzuhauchen.

Doch ist das auch realistisch? Eine Ausstellung in der Talstation der Diavolezza-Seilbahn geht auf diese Frage ein und beleuchtet die Bedeutung des Wassers in all seinen Formen im hochalpinen Gebiet sowie den Gletscherschwund. Nach dem Besuch drängt sich eine Fahrt mit der Luftseilbahn auf die Diavolezza geradezu auf. Und von hier präsentieren sich Palü und Bernina mit ihren Gletschern in ihrer ganzen Pracht. Dabei wird offensichtlich, was auf dem Spiel steht (Foto Piz Bernina mit Pers- und Morteratchgletscher – Foto Piz Palü mit Persgletscher).

Und man versteht auch Giovanni Segantini. Der Maler arbeitete auf dem Schafberg oberhalb von Pontresina mit Blick auf die majestätischen Gipfel der Berninagruppe. Kurz vor seinem Tod 1899 soll er gesagt haben: «Voglio vedere le mie montagne.»
Damals ahnte aber wohl noch kaum jemand, welches Schicksal die Gletscher in den kommenden Jahrzehnten ereilen würde.

 

Weitere Fotos:
Piz BerninaBernina mit BiancogratLärchen und Arven

 

Espazium – 3. November 2020 – Mit Schnee gegen den Gletscherschwund

Weitere Informationen:
Ausstellung bei der Diavolezza-Talstation – Virtual Reality Glacier Experience
Projekt Beschneiung Morteratschgletscher – Mort Alive
Verein für den Schutz von gefrorenen Süsswasserspeichern – Glaciers Alive

Beitrag in Einstein über das Projekt am Morteratschgletscher

 

Weitere Beobachtungen und Geschichten